CHINA-NEGOTIATION
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Interview mit Florian W. Mehring in der

Badischen Zeitzung

 

vom Samstag, 14.01.2017

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Freiburger Sinologen über chinesische

Verhandlungsstrategien

China ist Deutschlands wichtigster Wirtschaftspartner in Asien, doch Geschäftsverhandlungen sind häufig eine besondere Herausforderung für beide Seiten. Der Sinologe Florian Mehring klärt im Gespräch mit Savera Kang einige Missverständnisse auf und erläutert, wie Täuschungsmanöver als der Beginn einer langfristigen Beziehung angesehen werden können. BZ: Herr Mehring, warum haben Sie sich als Sinologe ein wirtschaftsnahes Thema vorgenommen? Mehring: Es gäbe viel Interessantes, ich wollte mich aber einem aktuellen Thema widmen. Es ist keine volkswirtschaftliche Arbeit, sondern sie handelt von etwas sehr Trivialem: der Verhandlung. In Europa gibt es viele Bücher über Verhandlungen, aber nur wenige mit Taktiken aus China. Wir wissen im Grunde gar nicht, wie Chinesen auf Verhandlungen vorbereitet werden. Das wollte ich ändern. BZ: Dazu haben Sie als Erster einen chinesischen Ratgeber des Verhandlungsforschers Liu Birong übersetzt und kommentiert. Ihr Doktorvater Harro von Senger hat die 36 Strategeme – also Täuschungsmanöver, die in China eine lange Tradition haben – erforscht. Auf ihnen bauen Liu Birongs Ansätze, die Sie für Ihre Arbeit übersetzt haben, auf? Mehring: Ja. Die Chinesen haben in der Ming-Zeit einen Katalog aus 36 listigen Vorgehensweisen erstellt – das sind feste Redewendungen, die jedes Kind beherrscht. Zum Beispiel: "Im Osten lärmen, im Westen angreifen." Oder: "Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen." Diese 36 Strategeme gehen auf Anekdoten aus der Antike zurück und sind noch heute weit verbreitet, nicht nur in Verhandlungsratgebern: Sie sind eingebettet in Geschichten, finden sich in Kinderbüchern. Das sind feste Formulierungen wie "Sieben auf einen Streich", das wir aus dem Märchen vom tapferen Schneiderlein kennen. BZ: Wie unterscheiden sich chinesische Verhandlungsmethoden von europäischen? Mehring: Zunächst einmal habe ich festgestellt, dass die Methoden in China und unsere dasselbe Ziel verfolgen: nämlich eine Übereinkunft, mit der beide Vertragsparteien mehr oder weniger glücklich sind. In Europa orientiert man sich allgemein am Harvard-Konzept: Wir legen dabei Wert darauf, dass alle Karten auf den Tisch gelegt werden und Probleme gemeinsam erörtert werden. Das funktioniert in einem gewissen Rahmen, in der Familie oder unter Freunden, sehr gut. In China sind solche Konzepte aber rar. BZ: Und listige Methoden sollen aus europäischer Sicht vermieden werden. Mehring: Ja, im Harvard-Konzept werden listige Methoden als moralisch verwerflich abgelehnt. Darum spricht man auch gar nicht erst darüber, wie man damit umgeht oder eine List vereitelt. Wir sind so gesehen "listblind", und das ist ein Problem. BZ: Wie geht man in China mit List um? Mehring: Dort erfolgt eine klare Trennung zwischen dem edlen Ziel – der langfristigen Kooperation und der Übereinkunft – und dem Weg dorthin. Wenn man sich eine chinesische Verhandlung anschaut, sieht man, dass die Verhandlungsparteien martialisch miteinander umgehen, dass Unwahrheiten in Umlauf gebracht werden und viele Listen angewandt werden. So tastet man sich an die Bedürfnisse des Gegenübers heran. Am Ende steht im Idealfall aber eine Übereinkunft, die beide Seiten zufrieden stellt. Das funktioniert nur, wenn beide Seiten in der Lage sind, Listen zu erkennen und anzuwenden – es ist wie ein Spiel. BZ: Beide Konzepte dienen also dem gegenseitigen Näherkommen: Das Harvard-Konzept will dies erreichen, in dem jeder auspackt, Lius Konzept geht von der anderen Seite vor – man tastet das Gegenüber ab. Mehring: Ja. Und wenn beide Seiten die gleichen Regeln befolgen, dann erkennt man die Bedürfnisse des anderen und kommt sehr wahrscheinlich auch zu einer Übereinkunft. Wenn aber die Verhandlungsparteien unterschiedlichen Konzepten folgen, kommt sich eine Seite schnell benachteiligt vor. Die Verhandlungen werden abgebrochen oder vielleicht wird auch ein Vertrag unterschrieben, die Beziehung zwischen beiden ist jedoch vergiftet. So oder so haben beide Seiten verloren. BZ: Können Sie so ein Beispiel aus der Praxis nennen? Mehring: Ein deutsches Unternehmen aus der Technikindustrie wollte in China ein Gemeinschaftsunternehmen mit einer einheimischen Firma gründen. Es gab natürlich viele Punkte, über die verhandelt werden musste: Investitionen, Gewinnbeteiligungen und so weiter, unter anderem über den Gerichtsstand. Die Chinesen waren sehr gut vorbereitet: Sie wussten, dass es für sie dienlich wäre, wenn der Gerichtsstand ein Ort in Deutschland ist. Denn sollte es zu einer Streitigkeit kommen und ein deutsches Gericht die chinesischen Partner zum Beispiel zu Reparaturzahlungen verurteilen, würden sie sich nicht daran halten müssen, weil das Gemeinschaftsunternehmen seinen Sitz nicht in Deutschland hat. Die Deutschen aber waren ängstlich, kannten das juristische System in China nicht und dachten darum auch, dass es für sie besser sei, wenn der Gerichtsstand in Deutschland ist. Als es zu den Verhandlungen kam, haben die Chinesen stur auf einem Gerichtsstand in China bestanden. BZ: Weil sie wussten, dass ihnen dies in der Verhandlung Oberhand gibt? Mehring: Ja. Die Deutschen hatten Angst und fingen an, für einen Gerichtsstand in Deutschland zu kämpfen. Um dieses Ziel zu erreichen, gaben sie in anderen Punkten nach. Der Vertrag, der am Ende dabei herauskam, benachteiligt die deutsche Seite im Grunde genommen völlig. Sie war nicht gut vorbereitet. BZ: Welches Strategem kam da zum Einsatz? Mehring: Es war ein Strategem, bei dem am Ende die deutsche Verhandlungspartei gegen sich selbst gekämpft hat, ohne es zu wissen. Sie haben sich mit diesem falschen Vorgehen ins eigene Fleisch geschnitten. BZ: Sie sagten, dass beide Seiten mit List die Bedürfnisse der Gegenseite kennenlernen möchten. Mehring: Genau. Man wirft ein Steinchen nach vorne und hört, wo es aufkommt; man stößt auf Widerstand und geht ein Stück zurück und so weiter. Das ist ein langwieriger Prozess, bei dem man viele Methoden anwenden kann, die bei uns als unehrlich gelten. Bei Liu werden sie aber nicht als unehrlich eingestuft, sondern gehören zum Kennenlernen einfach dazu. BZ: Das klingt umständlich, wenn man alternativ einfach die jeweils eigenen Bedürfnisse aussprechen könnte. Mehring: Es wäre wunderbar, wenn die ganze Welt nach dem Harvard-Konzept arbeiten könnte. Wenn alle einfach aussprechen würden, was Sache ist und dann nähert man sich an. Das ist auch das edle Ziel der Autoren. Leider ist die Welt nicht so. BZ: List findet in Europa sozusagen parallel zur Offenheit statt, folgt bei uns aber weniger bewussten Regeln? Mehring: Ja, List kennt man auf der ganzen Welt. Ein zentraler Punkt ist nun aber, dass Chinesen Listen benennen können. Im Deutschen haben wir nicht mal viele Synonyme dafür, in China gibt es die 36 Strategeme. Wenn ich mit meiner Frau, die aus China kommt, auf den Markt gehe, dann sagt sie zu mir: "Das ist jetzt dieses und jenes Strategem." Sie erkennt eine listige Verkaufsstrategie sofort. Auch Europäer sind sehr listig. Große Unternehmen, die nach China gehen, versuchen auch, die Chinesen zu übervorteilen. BZ: Aber weil Chinesen sich der Strategeme bewusst sind, durchschauen sie die Taktik schneller? Mehring: Ja, sie sind darauf geschult. Diese Schulung und dass man etwas benennen kann, gibt es auch umgekehrt: Zum Beispiel gibt es in China keinen Unterschied zwischen Rülpsen und Schluckauf. Es gibt nur ein Wort, dabei sind es gänzlich unterschiedliche Vorgänge des Körpers. Versuchen Sie mal, mit einem Chinesen über diese Unterschiede zu reden – sie werden ihn nicht verstehen. Erst, wenn sie wirklich genau hinsehen, werden sie den Unterschied begreifen. Ohne Begriffe ist es schwierig, zu differenzieren. BZ: In Reiseführern wird darauf hingewiesen, man solle sich darauf gefasst machen, dass in China bei Tisch gerülpst wird. Sind diese Irritationen, die eben auch bei Verhandlungen auftreten können, am Ende Missverständnisse? Mehring: Ja, was man nicht benennen kann, kann man schwer durchschauen. Die Strategeme sind nur für den Gebrauch untereinander gedacht, das ist wichtig. Für zwei Verhandlungsparteien, die sie beide anwenden. Da die Konzepte aber so tief verwurzelt sind, ist es vielen Chinesen nicht bewusst, dass sie gerade ein Strategem anwenden und Ausländer dagegen nicht gewappnet sind. BZ: Listiges Vorgehen und gleichzeitig das Ziel, mit der Verhandlung auch eine nachhaltige Partnerschaft zu stärken – das klingt ein bisschen nach Boxern, die gegeneinander in den Ring steigen, sich nach dem Kampf aber umarmen. Mehring: Das ist der Idealfall. Wenn beim Abtasten herauskommt, dass es zusammen nicht geht, dann hatte man trotzdem eine gute Verhandlung. Die Methoden nimmt man nicht persönlich: Es sind nur die Methoden, nicht die Person. Florian Mehring (38) ist in Paris und Freiburg aufgewachsen. Der Sinologe hat an der Freiburger Universität promoviert und lebt in der Schweiz, wo er als Verhandlungsforscher und Kulturcoach lebt. Sein Buch "Die Hohe Schule der Kriegskunst bei Geschäftsverhandlungen – kommentierte Übersetzung eines an Chinesen gerichteten Ratgebers des Verhandlungsforschers Liu Birong" ist 2017 im Verlag Dr. Kovac erschienen.